Necati Öziri im Kaufleuten
Anfang Januar war in Zürich im Kaufleuten eine Lesung von Necati Öziri. Der deutsch-türkische Schauspieler und Autor schreibt hauptsächlich fürs Theater. «Vatermal» ist sein erster Roman. Tuğba Ayaz hat den Abend moderiert. Notizen zu einigen Themen.
Sound: Er habe die Absicht, jeder Figur eine eigene Ausdrucksweise und Klangfarbe zu geben. Öziri ist selber Ohrenmensch, das hat er im Theaterstudium testen lassen.
Migration: das Gefühl, unwillkommen zu sein. Als 16-Jähriger hat Necati Öziri viel Wut, kann sie aber noch nicht umwandeln. Inzwischen weiss er wie. Eine frühe Hilfe ist ihm der Schriftsteller Deniz Utlu, er lädt den jungen Öziri nach Hause ein und bespricht mit ihm geduldig und ernsthaft einen Textentwurf des Jungen.
Lektorat: Es sei sinnlos, ein Buch nur zu zweit zu lektorieren, dazu brauche es mehr Leute. Vor allem weibliche Figuren müssten von Frauen gegengelesen werden, die die Situation der Figur nachempfinden können. Necati Öziri legt seine Texte früh in die Hände von Kolleg:innen und/oder Fachpersonen. Diese Treffen zur Textarbeit, sagt Öziri, seien immer auch ein Grund zusammen abzuhängen.
Necati Öziri, «Vatermal» bei ullsteinbuchverlage
Tuğba Ayaz ist Freie Journalistin. Sie schreibt für die Republik, die Wochenzeitung, das Magazin
Januar 2024 / HE
Vollendet – unvollendet
Das Buch «Barbara stirbt nicht» von Alina Bronsky
Die Erzählung «Barbara stirbt nicht» lebt von der Prägnanz ihrer Figuren. Der Pensionär Walter Schmidt muss im Alter plötzlich noch kochen und waschen lernen. Seine Frau Barbara dämmert geduldig und nicht ohne Humor ihrem Ende engegen. Hanne, die Wirtin; Luna, das Mädchen mit den blauen Haaren; die erwachsenen Kinder und der nostalgische Liebhaber, sie alle ziehen auf rätselhafte Weise unsere Sympathie auf sich.
Ich glaube, diese Lebendigkeit und Präsenz der Figuren entstehe durch eine Eigenschaft von Alina Bronskys Sprache. Ich möchte es mit einem Begriff aus der Malerei umschreiben. Das Kunsthaus Zürich hat im Jahr 2000 eine Ausstellung mit dem Titel «Paul Cézanne. Vollendet – unvollendet» gezeigt. Es ging darum, dass der Franzose seine Bilder oft nicht ausgearbeitet, sondern irgendwie offen hat stehen lassen. Dieselbe künstlerische Haltung kenne ich von dem Maler Radoslav Kutra, meinem früheren Lehrer in Luzern. Auch er hat an seinen Bildern nie so lange gearbeitet, bis unsere bürgerlichen Sehgewohnheiten zur Zufriedenheit bedient waren. Bei Pipilotti Rist – und vielen weiteren Künstler:innen – machen wir eine ähnliche Erfahrung. Bei Rist läuft möglicherweise der Prozess andersherum: dass sie eine harmonisch geschlossene Form mit Absicht wieder öffnet, bevor sie das Werk an die Öffentlichkeit bringt.
Ich unterstelle also, bei Alina Bronsky gebe es etwas in dieser Art, eine unscheinbare Brechung hier und da, eine Abweichung, ein stures Beharren oder saloppes drüber-Hinweg, Elemente also, die den harmonischen Abschluss von Satz und Absatz unterlaufen und einen Spalt ins Unkontrollierte, Chaotische öffnen. Wir können uns in ihrem Text ebenso wenig ausruhen wie vor den Werken der genannten Künstler:innen – es bleibt immer etwas offen oder ungesagt oder skizzenhaft, der Text fordert uns immer zur Bewegung heraus. In der Arbeitsweise, so stelle ich mir vor, geht Frau Bronsky beide Wege: Stehen lassen bevor die Form vollendet ist – oder wieder öffnen, nachdem es schon perfekt war. So oder so, es ist diese Unvollkommenheit, die uns die Figuren in der Geschichte so nahe bringt. Wir nehmen sie als Menschen wie wir wahr.
Vielleicht spüren wir in dieser Sprache und diesen Figuren das Unfertige als eine elementare Eigenschaft der Moderne. All die Versuche, perfektes Design, perfekte Musik, Malerei, Literatur und Architektur zu schaffen, gehen an diesem Grundzug unserer Epoche vorbei. Unsere Zeit wird immer dort fruchtbar, wo die Menschen ihren unvollendeten Charakter akzeptieren und in dieser elementaren Offenheit heimisch werden.
August 2023 / HE
Alina Bronsky bei Kiepenheuer & Witsch
Radoslav Kutra
Paul Cézanne
Pipilotti Rist bei Hauser & Wirth und wikimedia