Die Ausstellung «Hannes Egli – Bilder aus der Rheinschlucht» wurde am 22. Mai im Gasthaus am Brunnen, Valendas (GR) eröffnet. Ich trug diesen Text zusammen mit Hans-Andrea Buchli (piano) als Text-Musik-Dialog vor. Buchli griff die akustischen Phänomene vom Ende jedes Textblocks auf eindrückliche Weise in seinen Kompositionen/Improvisationen auf. Dazu wurden die Bilder der Ausstellung in ruhiger Abfolge projiziert.
Begegnung mit der Rheinschlucht
Im Sommer 2019 habe ich mich in die Rheinschlucht verirrt. Das geschah so:
Ich war drei Tage an einer Weiterbildung in Chur. Es war eine Sommerhitze, ein Hitzesommer. Ich spürte den dringenden Wunsch, nach draussen zu gehen, irgendwohin wo es weniger heiss wäre, und dort zu zeichnen.
Die Rheinschlucht kam mir in den Sinn. Ich war schon einmal mit dem Zug hindurch gefahren und hatte gestaunt ab diesem Stück Landschaft. Nun stellte sich heraus, dass es ja eine Bahnstation mitten in der Schlucht gibt. Ich verlängerte das Hotelzimmer in Chur um eine Nacht und fuhr nach Versam Station.
Es war in der Schlucht nicht weniger heiss als anderswo. Aber der Ort gefiel mir so gut, dass ich in der Pension des Spirituellen Zentrums sogleich ein Zimmer reservierte und aus dem Mittelland mein Malzeug holte. Ich begann die Landschaft zu erkunden, malte meine ersten Studien vor Ort und durfte schon nach dem ersten Aufenthalt meine nassen Ölbilder zum Trocknen im Holzschopf des Zentrums lassen.
Ich male meine Bilder wenn immer möglich vor Ort, im Pleinair, an der Feldstaffelei. Bei dieser Arbeitsweise trete ich, ob ich will oder nicht, in eine intensive Beziehung zu dem Ort. Erstens natürlich durch das Schauen – das farbige Sehen ist der Kern meiner Arbeit. Aber ich höre auch eine ganze Menge während dem Malen. Diese akustischen Wahrnehmungen sind ebenfalls Nahrung für Geist und Seele und fliessen in die farbige Gestaltung mit ein.
Und da gibt es nun einen Klang, der mir von Anfang an viel bedeutet hat: Das Rauschen des Vorderrheins. Dieser weiche Sound füllt den ganzen Talboden, er begleitet dich bei Tag und in der Nacht. Der junge Rhein, um es romatisch auszudrücken, singt das Lied vom ewigen Fluss der Dinge.
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Die beiden Sommer ’20 und ’21 waren fruchtbar für meine Malerei, es lief mir richtig gut. Ich malte in den beiden Jahren in der Rheinschlucht über vierzig Bilder. Doch dann stiegen die Temperaturen. 2022 verlangsamt sich der Malprozess. Früh am Morgen geht es am Besten, danach ziehe ich mich immer mehr ins Zimmer zurück. Das Steinhaus steht unterhalb vom Wald, da gibt es oft noch so einen Rest von Frische.
Ich mache kleine Wanderungen, den drei oder vier Wegen entlang, die zur Auswahl stehen. Im Talgrund Richtung Valendas, im Wald hinauf Richtung Versam, auf der linken Flusseite der Anstieg zur Conn. Vor allem auf den steilen Wegstücken fällt mir auf, wie die Vegetation unter der Trockenheit leidet. Nicht nur die Laubbäume nehmen eine ungesunde Farbe an und lassen Blätter fallen, auch die Nadelbäume haben Probleme. Sie sehen aus wie verstaubt und verlieren Nadeln.
Die irgendwie erloschenen Farben der Pflanzen finden ihren Widerhall in einem Geräusch, das mich beim Malen und beim Wandern durch diese Hitzetage begleitet. In den Steilhängen an beiden Seiten der Schlucht trocknet das mürbe Material aus. Sand und Kies lösen sich von den Felsformationen und rutschen in den Rinnen talwärts. Hier und dort ein Prasseln, ein Rieseln, ein Klickern und Klackern von rollenden Kieseln.
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Im Frühjahr 2022 sitzt Christine allein in der Küche der Pension und erschrickt. Doch lassen Sie mich ausholen.
Als ich anfing in der Schlucht, boten das Spirituelle Zentrum und das Café zur Einkehr Gästezimmer für Wander:innen, Kursteilnehmer:innen und einen Maler an. Heute werden die Zimmer nur noch intern vergeben, und manche Personen sind einen Monat oder länger zu Gast. Mit Christine zum Beispiel hatte ich eine richtige kleine WG. Auch Michael aus Norddeutschland war mehrmals da, und weitere feine Menschen kamen und gingen. Wir kochten zusammen und sassen und sprachen oft bis in die Nacht.
Abends, wenn der Ausflugrummel sich legte, konnten wir spüren, wie unser kleines Zusammenleben in einem grossen Ganzen eingebettet war. Die Rheinschlucht ist ja vor 10’000 Jahren durch diesen Felssturz von apokalyptischem Ausmass entstanden. Die Energien, die unter den stürzenden Felsmassen freigesetzt wurden, sind schwer vorstellbar. Aber es gibt Stellen, und die habe ich auch gemalt, wo der Fels eine richtig schwarze Farbe hat. Das ist immer dort, wo ganze Waldpartien in dem bis zur Glut erhitzten Material verschwanden, unter Luftabschluss verkohlten und ihren Kohlestoff ans Gestein abgaben.
Die Infotafel am Fluss sagt, die Abbauprozesse – nämlich das Eingraben des Flussbettes in das Bergsturzgebiet – seien nicht abgeschlossen. Es würden weiterhin kleinere oder grössere Felspartien kollabieren.
Nun also Christine am Küchentisch. Es ist ihr zweiter Winter in der Pension; sie ist es gewohnt, allein zu sein. Es ist still im Haus, Christine sitzt am Tisch und liest. Nun geht es schnell: Der Boden vibriert, es rumpelt, Christine schaut durchs Fenster auf die gegenüber liegende Felswand, sie sieht die Staubwolke und hört, wie eine halbe Flanke der Felswand mit Krachen und Donnern in das Flussbett stürzt.
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Sommer 2023. Ich habe wieder für mehrere Wochen das Zimmer bei Karoline Steinmann. Die Hitze habe ich schon erwähnt, es hindert mich aber noch eine zweite Sache an der Arbeit. Ich ging im Jahr zuvor als Primarlehrer in Pension. Die letzten Schuljahre waren von Verschleiss geprägt. Noch nach einem Jahr Ruhestand habe ich Konzentrationsprobleme und einen Mangel an Motivation. Ich sage mir aber, dass es mit dem Malen keine Eile hat. Es ist so oder so ein Glück, in der Rheinschlucht zu sein: Sie ist ein Ort des Rückzugs.
Ich gehe also mit der Staffelei an einen ruhigen Platz oberhalb der Bahnlinie. Von dort habe ich eine grandiose Sicht in die Felswand unterhalb der Conn. Diese Formation enthält eine riesige Vielfalt an Strukturen, und sie wechseln ihren Ausdruck mit dem Lauf der Sonne. Mangels Tatendrang setze ich mich neben der Staffelei zu Boden, lehne mich an den Fuss der Fichte, die dem Plätzchen Schatten spendet, und schaue in die Felsen hoch. Ich döse ein. Und da fangen sie nun an zu leben, die Echsen und Gnome, die Gewebe, die Knochen und Sehnen. Wie lange war ich eingenickt? Haben sich die Formen wirklich bewegt? Seltsamer Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit.
Richtig wach werde ich erst von dem Zug, der unterhalb der Böschung in die Kurve fährt. Die Rhätische Bahn, Verbindung zur Welt ausserhalb der Schlucht, setzt ihre akustischen Akzente in den Tageslauf. Die Palette der Geräusche reicht vom Bimmeln des Bahnüberganges und dem gleichförmigen Rollen des Güterzuges, vom Pfeifsignal der Zugbegleiterin und dem Schliessgeräusch der Türen bis zum nächtlichen Brummen des Dieselgenerators und zu dem aggressiven Kreischen der Räder in der Kurve. Die Bahn unterleget dem Leben in der Schlucht einen eigenen, tragenden Rhythmus.
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Einsame Tage, belebte Tage. Du kannst in der Rheinschlucht alles haben. Bei kühlem, feuchtem Wetter ist der Parkplatz leer, und aus dem Zug steigen nur mal zwei ganz Unentwegte um ins Postauto nach Tuurahuus. Sobald der Zug und Bus abgefahren sind, hörst Du wieder das einfache, klare Rauschen des Rheins.
Und dann gibt es wiederum Tage, da ist der Talgrund voller Stimmen. Ferne Juuzer von der Aussichtsplattform Spier, Sprücheklopfen und Lachen aus den Wandergruppen, Kinderstimmen rund um die Campingbusse, und schliesslich – für mich das Schönste – das weiche Stimmengemisch vom Café zur Einkehr.
Ich sitze im Schatten vor dem Steinhaus, eine Gartentreppe weiter unten hat es sich eine Gruppe junger Menschen in der Lounge des Cafés bequem gemacht. Ich könnte stundenlang so sitzen und auf den Wellen dieser Stimmen schaukeln. Die Unterhaltung schwingt entspannt und heiter hin und her. Niemand trumpft auf. So klingen Friede und gegenseitiger Respekt.
Mai 2024, Hannes Egli